Frau Müller isst regelmässig am gleichen Tisch, ist mit 86 zehn Jahre jünger, hat sich aber trotz guter Gesundheit innerlich schon von allem verabschiedet. «Zu allem sagt sie immer bloss: ‹Das geht mich nichts mehr an!›» Frau Huber verwirft ihre dünnen Arme. «Das Mittagessen, der Krieg, unser Ausflug nächste Woche – zu allem sagt sie bloss: ‹Das geht mich nichts mehr an!›» Sie zeigt auf die Einladung zum Ausflug. «Ich habe mich angemeldet, dabei weiss ich ja auch nicht, ob es mir dann gefällt.» Sie blickt auf den Fernsehbildschirm. «Ich schaue jeden Abend die Tagesschau, ich will doch noch Bescheid wissen.» Sie sinkt wieder auf ihren Stuhl. Der Ärger kostet sie Kraft. Sie formt ihre bleiche, knochige Hand zur Faust und haut auf die Sitzfläche des Rollators. «Es geht uns alles noch etwas an. Auch wenn man alt ist, gehört man noch dazu!» Die geballte bleiche Hand auf dem schwarzen Kunststoff des Rollators. Das Bild bleibt mir haften, auch als ich nach unserem Gespräch wieder durch den Korridor gehe. In einer Zeit, in der wir uns manchmal von allem abwenden möchten, weil wir überall nur noch Krisen sehen, nimmt Frau Huber noch an so vielem teil, trotz Schmerzen und schwindender Kraft. Ich bin gekommen, um für sie da zu sein und ihr zuzuhören, doch die Begegnung hat auch mich aufgerichtet. Hoffentlich werde ich Frau Huber nie vergessen, hoffentlich habe ich einmal die Kraft, mir ein Beispiel an ihr zu nehmen!
Franziska Ricklin, Sozialdiakonin Reformierte Kirche
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