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Ordnung ist nur das halbe Leben

Erstellt von Zeno Cavigelli, katholische Pfarrei | |   Unsere Zeitung

Eben komme ich zurück von einer Reise aus dem Norden Deutschlands. Ostfriesland ist eine der reichhaltigsten und interessantesten Orgellandschaften der Welt. Wir besuchten einige der schönsten Instrumente und liessen uns von ihren Klängen in ganz andere Zeiten und Welten führen. Immer noch klingen in meinen Ohren verschieden gefärbte Tonfolgen nach, mitsamt ihrem räumlichen Eindruck, ihrem Nachhall und samt dieser Stille, die entsteht, wenn der letzte Ton verklungen ist.

Orgeln zu besuchen ist aber nicht nur ein Erlebnis für die Ohren, sondern auch für die Augen. Meist sind diese Königinnen der Instrumente auch schön anzusehen. Sie sind prachtvoll verziert, ihre Pfeifen glänzen und manche Figuren scheinen auf ihnen zu tanzen oder mitzusingen. Weil die allermeisten dieser Orgeln in Kirchen stehen, gibt es natürlich auch sonst viel zu sehen, zu erkennen und vergleichen. Dabei ist mir etwas aufgefallen. In vielen dieser Kirchen stehen nicht einfach Stühle oder Bänke. Vielmehr sind die Kirchenbänke mit mehr oder weniger hohen Verschlägen versehen, die man durch ein Türchen betritt. Überblickt man von oben diese Pferche, erhält man das Bild eines Setzkastens. Im Setzkasten ordneten früher die Schriftsetzer ihre Lettern, mit denen sie die Worte, zum Beispiel einer Zeitung, von Hand zusammensetzten. Alle A, O oder U mussten genau im richtigen Fach auf ihren Gebrauch warten. War ein X versehentlich bei den V eingeordnet, gab das ein Durcheinander und man musste Druckfehler befürchten. Die Leute sassen also am Sonntag wohlgeordnet in ihren Fächern, und der Pfarrer oder die Vorsteherschaft konnte auf einen Blick erfassen, ob diese Fächer auch richtig gefüllt waren. Ja, von oben natürlich. Denn da gibt es nicht nur diese, sagen wir mal, Parkettlogen, sondern auch noch solche in höheren Lagen. In manchen Kirchen gibt es für besondere Leute besondere Balkone oder Emporen. Zuweilen erinnerten mich diese Hochsitze an Baumhäuser. Sie sind bestimmt für die Fürsten, für eine reiche Familie, für Häuptlinge aller Art, bisweilen gar mit privaten Zugängen. Alle diese Möblierungen hatten wohl ihren Sinn. Sei es zur besseren Übersicht, sei es zur sauberen Ordnung der Stände und Hierarchien, sei es einfach als Schutz gegen den kalten Wind im Winter. Und manche sind ja auch schön bemalt und verziert. Und doch bin ich nun froh, wieder in unseren Kirchenräumen so ganz ungeordnete Verhältnisse anzutreffen. Unsere schlichten Stühle und Bänke laden jede und jeden ein, den gerade richtigen Platz zu finden, sich von den Banknachbarn überraschen zu lassen, Nähe und Distanz auszutarieren. Ordnung ist das halbe Leben, aber eben nur das halbe, und das heisst, es gibt noch eine andere Hälfte. Das Evangelium, von dem in unseren Kirchen die Rede sein soll, will uns ja gerade aus unseren alltäglichen Setzkästen und Baumhäusern locken, will uns aufmischen und auffrischen und uns einladen, die Dinge auch mal von einer anderen Seite anzusehen.

Zeno Cavigelli, Seelsorger, katholische Pfarrei

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