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Gemüsegarten und Zitronenhain

Erstellt von Franziska Ricklin, Sozialdiakonin, reformierte Kirche | |   Unsere Zeitung

Manchmal kochen wir am Sonntag etwas ganz Besonderes. Nicht am Mittag für einen grösseren Kreis, eher am Abend, ganz entspannt, nur für uns zwei. Genauer gesagt: Mein Mann kocht. Er hat am Herd ein geschicktes Händchen. Deshalb kommt er meistens ohne Rezept aus.

Am letzten Sonntag aber probierte er etwas völlig Neues – für einmal mit Anleitung. «Dunkel gebratene Poulet-Schenkel», las ich, als ich ihm über die Schulter schaute, «mit Caramel-Clementinen-Dressing». Ich freue mich immer auf das Essen, wenn mein Mann kocht, aber das liess meine Erwartungen noch höher steigen. Ich schnappte mir die Kochanweisung und ging die zwei seitenfüllenden Spalten durch. «Mit Saft aus den Limettenspalten beträufeln». Die Exaktheit und bewusste Wortwahl gingen weit über eine rein technische Anleitung hinaus. Sie strahlten Respekt vor der Vielfalt guter Dinge aus, die wir aus der Natur gewinnen, und vermittelten einen wertschätzenden Umgang damit. Ich konnte gar nicht anders als mittun. Erst übernahm ich nur ein paar Handreichungen, für die ich nicht einmal an den Herd musste. «In der Küche für gute Belüftung sorgen.» Schliesslich nahm ich doch ein Messer zur Hand. «Clementinen mit einem Sägemesser quer in ein Zentimeter dicke Streifen schneiden, dann behutsam in Hälften reissen.» «Säge» und «reissen» – das klang zwar fast schon etwas grob, doch in den Fingern, ja im ganzen Körper spürte ich, was für eine Behutsamkeit nötig war, um die zarte Frucht nicht nur für den Gaumen herzurichten, sondern auch fürs Auge, und sie unverletzt auf den Teller zu bringen. Die Zubereitung wurde zu einer sinnlichen Meditation. Bei Tisch sagten wir nicht viel. Wir assen einfach selig. Das Glücksgefühl dauerte weit über die Mahlzeit hinaus. Es fühlte sich an, als könnten wir, ohne jede Anstrengung, der ganzen Welt so begegnen: mit grösster Wertschätzung und äusserster Sorgfalt. Als sei die Welt ein Gemüsegarten und ein Zitronenhain, die für uns unermessliche Reichtümer bereithielten.

(Das Rezept war in einer Publikumszeitschrift abgedruckt (Annabelle) und ist im Internet vielfach aufzufinden. Ursprünglich stammt es von Ottolenghi.)

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