Angesichts der realen Bedrohung, sich mit der gefährlichen Krankheit anzustecken, ist das natürlich verständlich. Aber es muss noch andere Gründe geben, die uns daran hindern, unproduktive Zeiten zu geniessen. Mir ist dazu ein Radiointerview mit dem Zeitforscher Karlheinz Geissler in den Sinn gekommen. Seiner Meinung nach leben wir westlichen Menschen stark nach dem Credo „Zeit ist Geld“: Wir ordnen uns dem Diktat der Uhr unter, takten unseren Alltag streng durch und versuchen, so viel wie möglich in unsere Zeit zu packen. Und dieses Denken bestimmt nicht nur unser Arbeitsleben, sondern herrscht auch bei unserer Freizeitgestaltung vor. So leuchtet auch ein, dass wir nur aktive Zeiten als sinnvoll erleben und mit unproduktiven Phasen weniger gut umgehen können. Dabei sind es gerade die Zeiten der Musse, Phasen, die nicht auf Geldverdienen aus sind, für die sich Geissler einsetzt. Er ist der Ansicht, dass uns das Zeitdiktat krankmacht und nicht unserem Wesen entspricht. Statt sich allein nach der Uhr zu richten, solle man lieber auf seinen Körper hören und die von ihm vorgegebenen Rhythmen respektieren. Indem man sich zum Beispiel erlaubt, morgens dann aufzustehen, wenn man aufwacht, und nicht, wenn der Wecker klingelt. Oder indem man Auszeiten von der Arbeit nimmt, wenn die Akkus aufgebraucht sind oder gerade anderes Priorität hat. Dieses neue Zeitverständnis bedeutet vielleicht einen Verzicht auf Geld und Güterwohlstand, bringt aber einen anderen Gewinn mit sich, nämlich den, selbstbestimmt nach den eigenen Bedürfnissen zu leben. Und dann können auch vermeintlich unproduktive Zeiten zu Quellen des Glücks werden.
Franziska Ricklin, Sozialdiakonin Reformierte Kirche
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