Anmelden | Registrieren

"Armer Winnetou"

Erstellt von Roland Portmann, reformierter Pfarrer | |   Unsere Zeitung

Winnetou und Old Shatterhand waren neben Captain Future und He-Man zwei der grossen Helden meiner Kinder- und Jugendzeit: Mit klopfendem Herzen verfolgte ich ihre Abenteuer, in den Büchern wie in den Filmen; zu einer kleinen Sinnkrise kam es dann, als ich mit dem Tod von Winnetou lernen musste, dass auch die Guten sterben können… Karl May hat wohl mein Bild von den «edlen Wilden» im «wilden Westen» und wohl auch das von Generationen geprägt. Ja, viele der dort beschriebenen Gewaltszenen sind wohl extrem - nicht aber extremer, als dass was ich auf Netflix zu sehen bekomme.

Ja, vielleicht hat sich Karl May etwas einverleibt, von dem er nur am Rande «Experte» war: heute müsste und würde man für solche Romane wohl mehr und besser recherchieren - das auch vor Ort. Dennoch dürfen wir nicht vergessen, welchen Respekt und welche Hochachtung Karl May der Kultur der «Indianer» entgegenbrachte: Er war einer der ersten, der mit seinen Büchern auch auf die Not und das Leid der indigenen Bevölkerung von Nordamerika hingewiesen hat. Karl May war bekennender Pazifist und ein Aktivist der damals jungen Friedensbewegung.

Karl May kulturelle Aneignung, ja Vereinnamung vorzuwerfen ist für mich deshalb schwierig und schwer nachzuvollziehen. Kultur ist immer Aneignung, Verschmelzung von bereits Vorhandenem mit Neuem. Das sehen wir im Grossen: Unsere abendländische Kultur beispielsweise ist ein riesen Mix aus griechisch- römischer Antike, allemanisch- germanischem Frühmittelalter und vielen anderen Einflüssen; unser Rechtsystem mit dem «römischen Recht» als einer der Grundpfeiler, die «Landsgemeinde» und schlussendlich die Gemeindeversammlung zeugen heute noch davon. Das sehen wir aber auch im Kleinen: Wir «Volketswiler*innen» sind eine riesen Mix, früher aus Hegnauer*innen, Zimiker*innen, Chindhüseler*innen, Gutschwyler*innen und Volletschwyler*innen und ja, die von Gutschwyl sind natürlich ganz anders - kleiner Scherz am Rande.

Heute besteht Volketswil aus Zürcher*innen, St. Gallern*innen, Bündnern*innen und Menschen aus allen anderen Landesteilen und aus vielerlei Nationen: und all diese Menschen bringen ihre Bräuche und Sitten mit - das ist eine Herausforderung, aber auch eine immense Bereicherung. Zum Beispiel wird unser Essen immer mehr ein Multi- Kulti-Mix zwischen Pizza, Thai-Curry, Sushi, Döner und Cervelat- Fusionsfood nennt sich das - and I like it!

Auch Religion «funktioniert» per se synkretistisch, das heisst durch Verbindung und Vermischung: Bereits Paulus schlägt eine Brücke zwischen Heiden- und Judentum, in dem er betont, dass Jesus Christus für die Sünden aller Menschen am Kreuz gestorben ist. Indem die jüdischen Speisegesetze für Heidenchristen und auch für Judenchristen nicht mehr verbindlich sind, schafft Paulus so eine neue Gemeinschaft. Auch heute stellt das Christentum, die weltumspannende Kirche eine Gemeinschaft in Vielfalt - gerade in kultureller Hinsicht - dar.

Kultur ist immer Aneignung, Verschmelzung von bereits Vorhandenem mit Neuem: Natürlich müssen wir darauf Acht geben, wie wir mit den Sitten und Bräuchen, den «Eigenheiten» der anderen umgehen und dürfen sie nicht einfach zu den «unseren» machen. Natürlich darf es nicht passieren, dass die vermeintlich «stärkere» Kultur die «schwächere» einfach schluckt, wie das in Zeiten der Kolonialmächte leider der Fall war. Auch heute sollen sich die anderen nicht einfach nur in allem «uns» anpassen und wir müssen uns auch nicht in allem den anderen anpassen: man kann nämlich gegenseitig voneinander auch lernen. Kulturelle Vielfallt ist dann eine Bereicherung, wenn sie auf Neugierde, Offenheit und dem Ziel der Gemeinschaft basiert - und das können wir hier in Volketswil auf vielerlei Weise leben: Paulus und die weltweite Kirche geben uns gute Beispiele dafür.

Roland Portmann, reformierter Pfarrer

Zurück
Die Kommentarfunktion steht nur registrierten und angemeldeten Nutzern zur Verfügung. Zum Login.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!