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Ich habe etwas Unglaubliches erlebt...

Erstellt von Gina Schibler | |   Unsere Zeitung

Ich lief vor Kurzem an der Klima-Demo mit einer Vielzahl von Menschen – wir waren ein unablässiger Strom – durch die Stadt und unsere Gesichter glänzten vor Energie. Kinder waren zuvorderst, sie führten uns an, hielten Megaphone in der Hand und gaben mit Trommeln den Takt vor. Kinder, nicht älter als 15, aber es waren auch Jüngere darunter, kaum zehn, zwölf Jahre alt. Ihre Gesichter waren ernst. Jonas hiess einer der Wortführer, er befahl uns: Keine Gewalt. Wir nickten und liefen los.

Um mich herum ein Meer von hochgereckten Schildern. Ich lief und lief, das Gesicht gegen vorne gedrückt, mir liefen die Tränen übers Gesicht. Vor bald drei Jahren an der Klimademo 2015 war ich schon einmal so gelaufen, da war meine Älteste mit dabei, sie hielt ihr Schild Denn ich liebe das Leben‘ stolz in die Höhe – noch wussten wir nicht, dass wir Monate später das Bild davon für ihre Todesanzeige würden wählen müssen. Unfalltod. Nun ging ich allein.Tränen über Tränen. Doch was sage ich allein: Es waren so viele! Fast unermesslich viele geworden in den drei Jahren, die eine jünger als der andere. Ich konnte mit meinen Augen kaum fassen, was die Kinder und Jugendlichen alles auf die Schilder gepinselt hatten: Es gibt keine Planet B. Climate Zero! Null!!! Verzicht tut gut. The Future is now! Jedes Kind versteht das Problem – nur nicht die alten fossilen Politiker! Gletscher gits nöd im Gfrürfach, wänns weg sind sind’s weg! Ziit rännt. Stopp the polution, we have the solution. System Chance statt climate change. Konsumstreik fürs Klima. Powered by love not by oil. Die Existenz der Menschheit ist bedroht und euch geht es am Arsch vorbei. Wohlstand auf Kredit – wer bezahlt das? Auch Neugeborene brauchen Interessenvertretung. Unser Konsum zerstört die Welt. Verzicht ist möglich. Klima isch to big to fail. Wäre das Klima eine Bank, wäre es schon längst gerettet worden. What do we want? Climate Justice! Und immer wieder möhnten und sangen wir Worte, eine machtvolle Trommel gab den Rhythmus vor: Wem sini Zuekunft? Öisi Zuekunft. Wem sini Welt? Öisi Welt! Wem sis Klima? Öises Klima. Wem siis Geld? Öises Geld. Wem sini Stadt? Öisi Stadt! Je länger ich durch die Stadt lief – es war kalt und der Zug war langsam („Mutter, geht eine Demo immer so langsam?“ „Es ist gut wenn es langsam geht, dann sind viele dabei!“) – desto mehr Tränen waren da. Nein, ich weinte längst nicht nur um meine verstorbene Tochter, es war die Trauer von 40 Jahren, der Traum, dass genau so etwas geschehen möge, dass sich da eine Kraft erhöbe, gewaltfrei, ohne Hass und mit einem Atem von Jahrmillionen. Ich realisierte, dass ich schon immer auf diesen Moment gewartet hatte, jahrzehntelang, er musste doch kommen, warum kam er nicht, warum erhoben wir uns nicht? Jetzt war es so weit. Angestossen worden war die Bewegung durch den unglaublichen Mut des kleinen Mädchen Greta Thunberg. Auch davon erzählten die Schilder: Make the world Greta again! Ich bin mir sicher: Das ist eine Bewegung. Der Kairos einer Bewegung ist kostbar. Er kann nicht gemacht werden, er ist ein Geschenk der Stunde. The big force arises. Nur das kann das Steuer der Verantwortung herumreissen, die Elite wird sonst korrupt und abgestumpft, seit Jahrzehnten die immer gleichen Parolen skandierend, weiter in den Abgrund marschieren: Mehr Wirtschaftswachstum, Fortschritt, Konsum! Dann kamen wir in der Mitte der Stadt an. Hinter uns drängten Tausende nach, vor uns standen sie schon. Die Kinder an der Spitze geboten uns zu schweigen. Eine Minute, baten sie. Wie die Footballstars aus America beugten wir die Knie und knieten am Boden. Zwölftausend waren wir, es war still, totenstill, wir beteten, schwiegen – was auch immer. Es durchzuckte mich ein Schlag! Vergib uns fossilen Erwachsenen, bettelte ich. Schenk uns Umkehr, flehte ich. Schenk diesen Kinder Kraft, mit diesen gewaltigen Märschen durch die Stadt nicht aufzuhören, bis Umkehr vollbracht ist. Wem sini Wält? Öisi Wält! Wem sis Klima? Öises Klima! Die Losungsworte durchbrachen die Stille, hallen immer noch in der Luft und meinen Ohren nach. Ich schwor mir, jedem davon zu erzählen, was ich Unglaubliches erlebt habe – auch Ihnen! Bitte kommt auch, schliesst euch uns an. Wann und wo es weiter geht? Die Kinder werden es uns schon mitteilen. Letzten Samstag waren es 30 000 Menschen schweizweit. Wenn jeder zwei Menschen mitbringt, sind es das nächste Mal 100 000 Menschen. Wenn... Wäre es nicht jammerschade, diesen Strom des Lebens zu verpassen?

Gina Schibler, Volketswil

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Kommentare (1)

  • w.klee@2wire.ch
    am 10.02.2019
    Liebe Frau Schibler,
    Die Antwort auf Ihre letzte Frage : JA, es wäre schade, diesen Strom des Lebens zu verpassen !
    Im Interesse der Bewahrung des Lebens und seiner Würde aber dürfen wir kognitiv befähigten Menschen nicht länger einen Aspekt des Lebens tabuisieren : Das menschliche Bevölkerung unseres Planeten, unseres Lebensraums darf nicht länger wachsen ohne Rücksicht auf die beschränkte Verfügbarkeit von Ressourcen, die wir mit den übrigen lebenden und nicht-lebendigen Wesen in sinnvoller Weise teilen müssen. Denn wenn wir es nicht schaffen, durch selbstbestimmten Verzicht auch auf unbeschränkte Vermehrung unserer eigenen Spezies das übrige Leben zu bewahren und zu schützen, dann wird dieser Strom des Lebens abreissen - durch einen für das würdelose Überleben der "Stärksten" (und das sind möglichwerweise nicht wir Menschen) unverzichtbaren Existenzkampf um die Lebensressourcen.

    Ich bin mir bewusst, dass ich mit diesem "Ansinnen" im Gegensatz stehe zu (bewussten) Ansprüchen und in unserem Unbewussten verankerte Tabus, gegen gängige Kirchenlehren und wohl auch gegen eine an unbegrenztes Wachstum und Expansion glaubende oder spekulierende Wissenschaft. Und ich hoffe, dass den Kindern, denen Sie Kraft wünschen, auch diese Einsicht zu Teil wird - in ihrem Interesse.