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Die Welt wird nie mehr so sein wie zuvor

Erstellt von Gina Schibler, reformierte Pfarrerin Volketswil | |   Unsere Zeitung

Mitten in die Fastenzeit hinein, die von Aschermittwoch bis vor Ostern dauert, platzte das Coronavirus und die Verordnung des Bundesrates auf Notrecht, die das soziale und öffentliche Leben hinunterfuhr. Das Leben der meisten Menschen spielt sich nun Zuhause ab. Was für ein Zeitpunkt! Man könnte fast sagen: Corona zwingt uns ein Fasten auf die Schnelle auf. Es ist, wie wenn ein geheimnisvoller Mechanismus, der jenseits unserer Beherrschung liegt, uns Stubenarrest verordnet: Mensch, werde wesentlich! Bleibe bei dir, besinne sich.

Ich weiss, ich weiss, das sind vermenschlichende Gedanken. Dieses Virus, das dabei ist, die ganze Welt zu erobern, ist jenseits von Verstand und Moral, ist einfach nur Evolution. Dennoch lässt es uns schaudernd zurück: Ein geheimnisvoller biologischer Vorgang, eine Mutation eines Virus groundet unser alltägliches Leben, verhagelt uns unsere Wellness-, Kultur- und Reiseprogramme und – schlimmer – unsere wirtschaftlichen Aktivitäten. Menschen verlieren ihre Jobs und bangen um ihre Firmen, Ersparnisse und Renten. Wie geht es weiter? Niemand weiss das wirklich.

Die herkömmlichen spirituellen Quellen – Gottesdienste, Pilgerfahrten, gemeinsame Gebete und Austausch - müssen abgesagt werden. Es bleiben allein die telefonischen und elektronischen Kontakte. Fasten wovon? Wie diese Zeit nutzen? Einerseits natürlich alles tun, um die Verbreitung des Virus einzudämmen. Doch das – es ist schwierig genug – darf nicht alles sein. Es ist nötig, dem Virus eine zweite Botschaft abzulauschen. Der grausame Stopp auf die Schnelle weist uns darauf hin, dass Corona nicht die einzige Krise ist, die uns bis zur Schmerzgrenze herausfordert. Da lauert noch mehr, ebenfalls unbewältigt und angsteinflössend: Die Klimakrise. Der Schwund von Süsswasser. Abfall- und Plastikprobleme. Der Verlust der Artenvielfalt. Ich stoppe hier, um uns nicht weiter die Laune zu verderben.

Jetzt, nachdem wir nach einer Zeit der Corona-Verdrängung endlich die relevanten Vorsichtsmassnahmen getroffen haben, ist es für diejenigen, die nicht aufopferungsvoll in Spital und Pflege Dienst leisten Zeit, sich mutig und unerschrocken mit den nicht tagesaktuellen, aber dennoch überlebenswichtigen Problemfelder zu konfrontieren. Corona demonstriert: Verdrängen, Wegschauen nützt nichts, macht es nur exponentiell schlimmer. Wir müssen der Wahrheit ins Auge blicken: Das Wenigste an unserem Alltag wird so bleiben wie es ist. Greta Thunberg wurde in Davos von Journalisten gefragt, was sich denn ändern müsse. Sie seufzte und antwortete: «Alles!» Hat sie recht? Nichts wäre verhängnisvoller, als wenn wir nach drei Monaten (oder wie lange auch immer der Lockdown dauert) entlastet aufatmen und alles wie zuvor hochfahren: Unsere Freude an klimaschädlicher Mobilität, unsere Lust an Konsum und Dingen, unser Drang, die Welt mit Klimagasen für Mensch und Tier unbewohnbar zu machen. In Bezug auf Klima und Umwelt verdrängen Politiker weltweit und wir Konsumenten viel zu viel - länger und kopfloser als angesichts von Corona.

Wir verdrängen, mauern, wiegeln ab und gehen immer weiter unüberschaubare Risiken seit über 45 Jahren ein. Unterdessen jagt bald eine Hiobsbotschaft die andere: 2019 Brände in der Arktis, in Amazonien, in Australien und Kalifornien – egal, die weltweite Staatengemeinschaft wie auch ganze Kontinente hielten unbeirrt am zerstörerischen Wirtschaftswachstum fest. Die Klima-Wissenschaft könne uns nicht vorschreiben, wie sich die Gesellschaft organisiere, deren Vorgaben (Netto Null-CO2 2050, 50 Prozent Reduktion bis 2030) seien gesellschaftlich nicht durchsetzbar. Vorsätze wurden zwar gefasst (Paris 2015), doch sie bleiben vorderhand mehrheitlich heisse Luft. Es muss – wie bei Corona – ein Ruck durch unser Land, durch unsere Welt gehen. Ist das möglich? Angela Merkel formuliert es in Bezug auf Corona so: Massstab für die Krise ist nicht der Wunsch des Einzelnen oder der Wirtschaft. Massstab für die Krise ist der gegenwärtige Stand der Wissenschaft, auch wenn sie noch nicht alles weiss. Warum sollte das nicht auch in Bezug auf das Klima oder die Artenvielfalt gelten: Massstab der Krise ist nicht der Anspruch von uns allen auf Mobilität, Fun und Lebensstandard, sondern die gegenwärtigen Erkenntnisse der Wissenschaftler, auch wenn sie noch nicht alles wissen.

Wie also werden wir unsere Wirtschaftsleben und unseren Alltag nach dem Lockdown wieder hochfahren: Alles wie zuvor, nur noch hektischer, weil von Nachholbedarf getrieben? Mehr Reisen, grössere Autos, mehr Konsum, mehr Abfall? Und bis dahin: Rettet die Politik ohne mit der Wimper zu zucken CO2-schädliche Firmen wie Fluggesellschaften – weil (wie nachvollziehbar!) - Existenzen, Arbeitsplätze und das wirtschaftliche Überleben der Schweiz von ihnen abhängen? Massstab der Krise ist nicht der Anspruch von uns allen nach schädlichem Wirtschaftswachstum, dem absoluten Erhalt der Arbeitsplätze. Ja, wir dürfen niemanden zurücklassen, für jeden in unserem Land muss gesorgt werden – doch nicht auf Kosten unserer Lebensgrundlagen. Weil wir sonst nicht nachhaltig vorsorgen und dadurch die Zukunft unserer Kinder verspielen, ähnlich wie jetzt bei Corona ohne Lockdown das Leben vieler Älteren und Schwachen und des Gesundheitssystems aufs Spiel gesetzt würde. Bleiben wir zwar physisch distanziert, aber menschlich-emotional miteinander verbunden. Bleiben Sie wach, mutig und gesund.

Gina Schibler, reformierte Pfarrerin Volketswil

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