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Der barmherzige Samariter und die Flüchtlinge in Moria - zum Bettag 2020

Erstellt von Gina Schibler, reformierte Pfarrerin | |   Unsere Zeitung

Ein Flüchtlingslager in Lesbos ist abgebrannt, mit über 12 000 Menschen. Mutmasslich angezündet von Brandstiftern, die selber Flüchtlinge sind. Warum? Aus Protest? Aus Verzweiflung? Aus Wut, nicht nach Europa gelangen zu können? In wilder Entschlossenheit, sich den Weg ins gelobte Land freizulegen? Gibt es darauf aus christlicher, aus jesuanischer Sicht nicht nur eine Antwort: Diese Menschen dort sind schnellstmöglich aus dieser misslichen Situation zu befreien und sie allesamt nach Europa, am besten sogar alle in die Schweiz zu holen?

Wir haben noch Platz - war der Slogan von protestierenden Menschen vor dem Bundeshaus und in Berlin. Lassen Sie mich dazu das von Jesus stammende Doppelgebot der Liebe und eine berühmte Geschichte genauer in Betracht ziehen. Das Doppelgebot der Liebe lautet: Liebe Deinen Nächsten wie dich selbst. Der Nächste enthält eine geografische Komponente, was uns entlastet: Ich muss nicht alle lieben. Dieser Anspruch überfordert uns nämlich.

Lieben, Fürsorge übernehmen soll ich für die Nahen oder das Nahe. Das Nahe heute muss nicht unbedingt geografische Nähe beinhalten. Dank den Medien und unserer vorcoronamässigen Tendenz, in der ganzen Welt herumzureisen, lernen wir Menschen, Länder, Natur, Tiere und Pflanzen aus der ganzen Welt kennen und sie können uns nahe kommen. Doch Kennzeichen des Nächsten ist die Auswahl. Es ist eine begrenzte Fürsorge, die wir wahrnehmen. Symbol dafür ist der Kreis. Wir tragen Verantwortung für Menschen, die in unserem Land leben. Das schliesst manchmal gewisse Menschen aus. Nicht alle lassen wir in unser Land. Nicht alle können an unseren sozialen Errungenschaften wie AHV, Krankenversicherung, Sozialhilfe und Arbeitslosenversicherung teilnehmen. Nicht alle sollen uns auch nahe kommen.

Diese Abgrenzung ist nicht primär unchristlich (im Einzelfall kann sie das natürlich sein). Sie ist einfach realistisch. Doch das Symbol des Kreises habe ich nicht ganz fertig beschrieben. Der Kreis, den die christliche Gemeinde - im Unterschied zur staatlichen Gemeinschaft - prägt, ist offen. In diesen kann man hineingelangen, aus diesem kann man heraustreten. Wer kommt in diesen offenen Kreis hinein? Der Bibeltext sagt nun - im Unterschied zum staatlichen Gesetz, das genau und abschliessend regelt, wer in diesen Kreis aufgenommen wird: Oft ist das Zu-Fall. Wer einem zum Nächsten wird, das sucht man sich zumeist nicht aus. Das fällt einem zu. Das Liebesgebot von Lukas 10 veranschaulicht Jesus ja mit einer Geschichte, die erläutert, was respektive wer denn nun dieser Nächste ist - mit der Geschichte des barmherzigen Samariters.

Die Goldene Regel ist quasi religiöses Allgemeingut, das alle Religionen verbindet. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter ist nun aber jesuanisches Urgestein, trägt Jesu Handschrift und zeigt die Züge seines offenen Herzens. Einer aus Samarien ist unterwegs von Jerusalem nach Jericho. Er findet einen von Räubern überfallenen halb tot am Wegrand liegend. Sein Mitgefühl leitet ihn. Er hält an, bückt sich, leistet erste Hilfe. Sein Mitgefühl hilft ihm, dass der Kreis sich öffnet, ja offen bleibt. Mitgefühl hilft auch uns, dass sich die staatliche Gemeinschaft immer wieder öffnet. Denn diese hat eine Tendenz zur Geschlossenheit. Es ist genau definiert, wer drinnen ist und wer draussen bleiben muss: In der Staatszugehörigkeit und der Aufenthaltsgenehmigung.

Die Vorstellung des Nächsten erlöst uns also einerseits von der Überforderung des Einsatzes für alle Elenden dieser Welt. Es ermöglicht die Auswahl für jemanden, für etwas Konkretes, Nahes. Was uns ans Herz wächst. Und dafür sollen wir uns mit Haut und Haar einsetzen, ebenso so wie der Samaritaner im jesuanischen Gleichnis. Dieser ist ja nicht der einzige, der dem Notleidenden begegnet. Es gehen vorher zwei andere an ihm vorbei, ohne Hilfe zu leisten: ein Priester und ein Levit. Ein Priester dient im Tempel in Jerusalem, er ist Diener Gottes. Der Levit beliefert die Tora, das Heilige Gesetz der Juden, schreibt es ab, pflegt die Schriftrollen, verwaltet das Orakel in Form von kleinen Kultgegenständen, wahrscheinlich Stäbchen oder Steinchen.

Wer ist der, der Gottes Willen tut? Wer ist der wirklich Gottgläubige? Die Antwort Jesu: Derjenige, der dem Verwundeten hilft! Den Glauben an Gott in einer säkularen, weltlichen Gesellschaft leben heisst also, nicht dem Beispiel des Priesters oder des Leviten zu folgen. Sie demonstrieren zwar - vielleicht sogar eindrücklich - ihre Rechtgläubigkeit. Sie sagen Gottes Zukunft voraus, verwalten sein Heiligtum, bewahren und tradieren die Heiligen Schriften und damit Gottes Wort. Aber alles ist Schall und Rauch, ist tönerne Schelle, ist schepperndes Erz, wenn das Mitgefühl fehlt. Sich vom Mitgefühl führen lassen bedeutet, dem Notleidenden beizustehen. Den Kreis zu öffnen für jemand Fremden, der uns durch seine Not zum Nächsten wird.

Doch wie verhalten sich diese zwei Dimensionen des Lebens - der Staat mit seinen Regelungen und die christliche Religion mit ihrem Mitgefühl - zueinander? Was siegt im Konfliktfall: Das Herz oder der Verstand? Damit sind wir bei der Eingangsfrage, wie wir als Christen den Ereignissen auf Lesbos zu begegnen haben. Verzweifelte Menschen in der nächtlichen Feuerhölle. Die Bilder von Moria sind schrecklich. "Schande von Europa", rufen Mahner uns ins Gewissen. Die Reaktionen sind gewiss nobel und verständlich. Doch wissen wir nicht schon längst: Migration ist sehr schwierig, einfache Lösungen gibt es nicht. Denn da gibt es Argumente, gute Argumente: Man stelle sich vor, die Regierungen kämen den Forderungen nach und würden sΣmtliche Flüchtlinge von Lesbos auf das europäische Festland respektive in die Schweiz evakuieren. Die Insel wäre innert kürzester Zeit erneut voller Menschen, die sich auf den Weg gemacht haben. Die neuen Flüchtlinge würden ebenfalls fordern, kommen zu dürfen. Um die nötige Aufmerksamkeit und Dringlichkeit zu erhalten, könnten auch sie zum Mittel der Brandstiftung greifen.

Wir haben ähnliches in diesem Frühjahr an der griechisch-türkischen Grenze und im Flüchtlingssommer 2015 mit den Millionen von Flüchtenden aus Syrien und der ganzen Welt erlebt. Deutschland schaffte das, ja. Aber auch Deutschland schafft das nur ausnahmsweise, nicht jedes Jahr. Kurzfristig führt diese Zurückhaltung im Helfen zu viel Leid - auf die Dauer jedoch würde jede andere Haltung Europa als Staatengebilde und die Schweiz als Nation überfordern und hinwegfegen.

Das alles klingt furchtbar angesichts des realen Leids. Doch es nennt sich Realpolitik. Es gibt nur eines: Den Menschen vor Ort helfen, so gut es geht - und weiterhin unnötige Fluchtgründe verhindern. Damit habe ich nun eine - meine Haltung -skizziert. Aber kann sie wirklich beanspruchen, christlich zu sein? Müssten wir als Christen nicht wie der Samariter im Gleichnis allein unser Herz sprechen lassen, den Verwundeten und Heimatlosen beistehen und sie zu uns holen? Im Gleichnis vom Samariter fällt auf: Dieser holt den Verwundeten nicht in seine Heimatstadt. Er holt ihn von der Strasse, verbindet ihn und bringt ihn in ein Wirtshaus. Dort gibt er dem Wirt Geld - Denare, damit dieser für ihn sorge - nötigenfalls auch darüber hinaus. Und damit verschwindet er - und geht weiter seinen Geschäften nach. Bemerkenswert: Geld und Mitgefühl sind keine Gegensätze, im Gegenteil: Geld ermöglicht Mitgefühl. Jesu Forderung lautet nicht, sein persönliches Leben, die Existenz des eigenen Staates, die Tragfähigkeit von Sozialwerken und von Staats-Grenzen aufs Spiel zu setzen.

Genau das würde - befürchte ich jedenfalls - geschehen, wenn wir der Welt und insbesondere Afrika mit seiner Bevölkerungsexplosion signalisieren, dass wir grossmütig Menschen in Not aufnehmen. Nothilfe und kluge Unterstützung, aber keine Selbstüberforderung und Selbstaufgabe, ist das der Ratschlag der Neuen Testamentes? Das führt zur nächsten Frage: Angesichts der Situation in Moria - hat die EU, haben wir denn nichts unternommen, um diesen Menschen ein faires Asylverfahren zu ermöglichen? Floss da kein Geld, um dieses zu finanzieren? Doch, und zwar nicht zu wenig. Es flossen Milliarden der EU an Griechenland. Wo ist dieses Geld geblieben? Ist es etwa versickert?

Kann es sein, dass der heutige Wirt - in diesem Fall Griechenland - es nicht zweckdienlich einsetzt? Wenn ja, dann muss das schleunigst ändern. Zurück zum Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Der Samariter würde damit konfrontiert, dass der Wirt die Denare verprasste und den Verwundeten ohne ärztliche Unterstützung liess ihn zur Rechenschaft ziehen.

Der Staatenbund der EU, unter anderem mit den Kohäsionsmilliarden der Schweiz, hat viele Denare aus ihren und unseren Steuergeldern zusammengelegt, um diesen Menschen ein faires Asylverfahren zu ermöglichen: Entweder erhalten sie Asyl - oder sie müssen zurückkehren. Es ist aus meiner Sicht unehrlich und ein Vergehen, wenn diese Milliarden nicht genau für diesen Zweck eingesetzt werden.

Nochmals: Wo ist das Geld geblieben? Ich finde diese Frage gerade angesichts der Not der Flüchtenden nicht unangebracht, sondern im Gegenteil sowohl christlich wie rechtsstaatlich. Es geht nicht an, Gelder zweckzuentfremden und damit Pfeiler der Mitmenschlichkeit zum Einsturz zu bringen. Wie weiter also? Das Kind ist in den Brunnen gefallen, Moria ist abgebrannt, die Schutzsuchenden vermutlich von Corona-Viren befallen, vielleicht einzelne Menschen auch vom Virus der Gewalt und Brandstiftung infiziert. Um im Bild des Gleichnisses zu bleiben: Der Samariter kommt zurück zum Wirt und muss entdecken, dass dieser das Geld nicht in seinem Sinne eingesetzt, sondern verprasst hat.

Wird er den Wirt dafür loben? Ihm weitere Denare überweisen? Den Verletzten in seine persönliche Obhut nehmen? Das Gleichnis macht hier keine weiteren Aussagen. Doch ich glaube, dass nationalstaatliche Schutzschilder und Sozialsysteme zu kostbar und in Zukunft, in einer vielleicht rauheren Zeit, viel zu wichtig sind, als dass wir sie gefährden dürfen. Korruption, Missbrauch von Subventionen und Bürokratiemonster sind möglicherweise das grössere Problem, das die Grundlagen der Solidarität bedroht, als scheinbare Hartherzigkeit und Abwehr.

Um es hart zu sagen: Ein verarmter Samariter, der alle seine Denare den Ärmsten spendet, wird dem nächsten Verwundeten, der unter die Räuber gefallen ist, nicht mehr wirklich helfen können. Ist diese Erkenntnis wenig, ist sie viel? Es ist wie es ist - die harte Realität des Lebens, in die Jesus sein Gleichnis hinein erzählt. Mich beeindruckt, mit welchen Niederungen und Winkelzügen der Realität es dieses beühmteste, berührendste biblische Gleichnis aus meiner Sicht aufnehmen kann.

Gina Schibler, reformierte Pfarrerin

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